Martha Müller-Grählert (20.Jh.)
- In Japan gedichtet und in Zürich komponiert: "Wo die Ostseewellen trecken an den Strand", von Doris Wilkens
- Ergänzung: Martha Müller-Grählert, von Grete Grewolls
Friesenlied hat viele Mütter und Väter - Kleine Geschichte der Norddeutschen Nationalhymne
Von Doris Wilkens.
Eine unendliche Geschichte: Verknüpft mit vielen fast kuriosen Zufällen verbunden ist der Weg des nicht nur an der Nordseeküste bekannten und viel gesungenen Friesenliedes.
Nach seiner Entstehung wird es gesungen in der jeweiligen Landessprache in Holland, Dänemark, Schweden, Norwegen. Auf dem roten Fels in der Deutschen Bucht singt man es in der Helgoländer Sprache. Weiter ist es bekannt in den USA und Kanada, in England und Frankreich.
Die Ostfriesen singen es, auch die Nordfriesen variierten sich das Lied ebenfalls für ihre eigene Heimat, in ihrer friesischen Mundart versteht sich, zurecht. An der Ostsee, seiner eigentlichen Heimat, in Mecklenburg und in Holstein und ganz besonders in Ostpreußen ist es bekannt als das "Ostpreußenlied" in hochdeutschen Nachdichtung. Ja, sogar auf Italienisch und Spanisch kann man es hören sowie in den Südtiroler Dolomiten und - in der Schweiz, hier hatte die Melodie ihren Ursprung. Aber nun der Reihe nach.
Es waren nicht nur die Nordseewellen, sondern zuerst die vorpommerschen
Ostseewellen, die auf den Strand der Halbinsel Darss im äußersten
Westen des damaligen Pommern spülen und wo "de geele Ginster bläuht
in'n Dünensand ..."
Die vorpommersche Schriftstellerin Martha Grählert, geb. 1876, verheiratete Müller, schrieb um die Jahrhundertwende dieses Heimwehgedicht an ihre geliebte Ostsee in vorpommerschem Platt. Mit ihrem Mann war sie nach Japan gegangen, wo Prof. Müller an einer Landwirtschaftsschule unterrichtete. Hier packte sie das Heimweh, und hier schrieb sie das Gedicht "Miene Heimat".Das OstseeliedWo de Ostseewellen trecken an den Strand,
wo de geele Ginster bläuht in'n Dünensand,
wo de Möwen schriegen grell in't Sturmgebrus,
dor is miene Heimat, der bün ik to Huus.Well' un Wogenruuschen weer mien Weigenlied,
un de hogen Dünen seg'n mien Kinnertiet,
segen ok mien Sehnsucht un mien hell Begehr,
in de Welt tau fleigen äwer Land un Meer.Woll hätt mi dat Lewen dit Verlangen stillt,
heet mi allens gewen, wat mien Hart erfüllt;
allens ist verswunnen, wat mi quält un dreew,
hew nu Freden funnen, doch de Sehnsucht bleew.Sehnsucht na dat lütte, stille Heimatland,
wo de Wellen trecken an den witten Strand,
wo de Möwen schriegen grell in't Sturmgebrus,
dor ist miene Heimat, dor bün ick to Huus!
Die Verfasserin schickte das Gedicht nach Hause, wo es in den "Meggendorfer Blättern" im Jahre 1907 zum ersten Mal veröffentlicht wurde. So sind die Verse aus Japan zu uns gekommen, um dann allmählich zu einer Art Nationalhymne deutscher Küstenbewohner zu werden.
Martha Müller-Grählert kehrte 1914 nach Deutschland zurück. Die Ehe ging in die Brüche. In Bedrängnis geraten, schrieb sie nun ernste und heitere Geschichten und Gedichte, die jedoch nie "groß ankamen". Im Jahre 1939 starb sie. Auf dem Kirchhof in Zingst fand sie die letzte Ruhe. Auf ihrem Grabkreuz schrieb man die Worte: "Hier is miene Heimat - hir bün ick tau Huus".
Das einzige Gedicht Martha Müller-Grählerts, das sie dennoch berühmt machte, war ihr Heimwehgedicht an die Ostsee, an die Ostseewellen, welches, später umgedichtet, ein Loblied auf die Nordseewellen wurde. Und wie es dazu kam, dass diese Verse mit dem Heimwehthema vertont wurde, ist eine romantische Geschichte.
Da war ein Glaser aus Flensburg auf seiner Wanderschaft in die Schweiz nach Zürich gekommen, um sich hier niederzulassen. Er trat dem Züricher "Arbeiter-Männergesangverein" bei, der von einem aus Thüringen stammenden Dirigenten namens Simon Krannig geleitet wurde. Krannig war sehr musikalisch, versah u. a. den Dienst eines Organisten in der örtlichen Kirche.
Diesem Simon Krannig brachte der aus Flensburg stammende Glaser eines Tages das in den "Meggendorfer Blättern" veröffentlichte Gedicht "Miene Heimat", welches er stets bei sich trug, mit der Bitte, es zu vertonen. Offenbar hatte der Norddeutsche stets Sehnsucht nach seiner Heimatstadt und fühlte, da er schon recht alte war, dass er seine Heimat nicht wiedersehen würde.
Krannig ließ sich das Gedicht zunächst einmal ins Hochdeutsche übersetzen und dann war er begeistert! Er setzte sich ans Klavier und schon eine halbe Stunde später war die Melodie geboren, die heute um die ganze Welt geht. Beiden Männern sollen Tränen in den Augen gestanden haben.
Nur wenige Wochen später, es war etwa im Jahre 1909, nachdem der Musikmeister Krannig die Noten für seinen Männerchor verfasst hatte, verstarb der Glaser aus Flensburg.
Die Uraufführung des Liedes fand statt auf einem Züricher Friedhof am Grabe des Glasers, der den Anstoß zum Entstehen gegeben hatte.
So also wurde das ursprünglich pommersche Heimwehlied von Martha Müller-Grählert in Zürich komponiert und uraufgeführt.
Für lange Zeit in Vergessenheit geraten, gelangte es zufällig an die Nordsee, setzte sich hier aber nur allmählich durch, nachdem es in einem Braunschweiger Verlag erschien.
Die Soltauer Verleger Fischer-Friesenhausen entdeckte schließlich das Lied, übersetzte es ins Hochdeutsche und gab ihm die endgültige Nordseewellen-Form. Bald im Besitz der Verlagsrechte, sorgte er dafür, dass das Lied immer weiter unter die Leute kam. Auf Postkarten gedruckt gab es die hochdeutsche, die nordsee-plattdeutsche und sogar die ostsee-plattdeutsche Version.
Es wurden Noten für Chor und Sologesang verfasst. Des weiteren Noten für Akkordeon, Klavier und Orchester. Die Frisia-Reederei in Norddeich begrüßte schon mal ihre Gäste auf den Inseldampfern mit den "Nordseewellen".
Es existieren eine Unzahl von Sonderfassungen des Liedes, und wie eingangs erwähnt, ist es fast weltweit bekannt. Viele Landstriche, Städte sowie Dörfer im Binnenland haben ihre eigene Version. Wie wir feststellen können, ist dieses Lied um die ganze Welt gegangen, vielen Sprachen ist es in allen Breiten des Erdballs bekannt.
Intensive Nachforschungen hierüber veranlassten Gerd Lüpke, hierüber zu berichten. Gerd Lüpke, geboren 1920, wohnhaft in Varel am Jadebusen, hat einen Namen als Schriftsteller und Hörfunkautor in der Mecklenburger Mundart. Besonders bekannt geworden in unserer Region ist er u.a. als Verfasser und Erzähler von Geschichten über "Käppen Möhlenbeck". Zusammen mit Hans-Robert Helms erarbeitete er eine Sendung über das Friesenlied, die im Jahre 1962 von Radio Bremen ausgestrahlt wurde. Wie die Aufzeichnung dieser Sendung in meine Hände gelangt ist, will ich jetzt erzählen.
In den schweren Nachkriegsjahren 1947/1948 hatte ich das große Glück, einige Monate in die Schweiz verschickt zu werden - ermöglicht durch das schweizerische Rote Kreuz.
Einen ausführlichen Bericht über meine Erlebnisse in dieser Erholungszeit veröffentlichte die "Wilhelmshavener Zeitung" in der Weihnachtsausgabe 1997.
Die Erinnerung an die glückliche Kinderzeit ist noch heute sehr stark; die Verbindung zu der Familie meiner inzwischen verstorbenen Pflegeeltern sowie zu ehemaligen Klassenkameradinnen ist nach mehr als 50 Jahren nicht abgebrochen.
So bekam ich eine Einladung, am Treffen ehemaliger Schüler/innen aus der Dorfschule, die ich in den Jahren 1948/49 besuchte, im September 2000 teilzunehmen. Bei einer Mitschülerin fand ich für eine Woche herzliche Aufnahme.
Obwohl wir uns mehr als fünfzig Jahre nicht gesehen hatten und der Briefkontakt erst nach meinem Bericht in der "Wilhelmshavener Zeitung", welcher auch in dem kantonalen Regionalblatt erschienen ist, zustande kam, waren wir uns sofort vertraut. Bei der Zusammenkunft der ehemaligen Klassengemeinschaft gab es natürlich vieles zu erfragen und zu berichten.
Dann kam es: Eine ehemalige Mitschülerin und gleichzeitig Mädchen aus der Nachbarschaft, das Vreneli - wir spielten außerhalb der Schulzeit miteinander - sprach mich an: "Du warst es doch, die im Unterricht viele plattdeutsche Gedichte und Verse vortragen konnte; zudem hast du das Friesenlied 'Wo die Nordseewellen.. .' in deiner Heimatsprache gesungen. Die Klasse sang dann abwechselnd mit dir die Strophen in Hochdeutsch."
Ja, selbstverständlich wusste ich Bescheid, oft hatte ich zu Hause von dieser Begebenheit berichtet. Vreneli erzählte mir dann, dass der Komponist, dieser seinerzeit in Zürich lebende Simon Krannig, ihr Großvater sei. Damals als Kind kannte sie nicht die Zusammenhänge. Bei der Erforschung dieses Themas in späterer Zeit erinnerte sie sich an unsere gemeinsame Schulzeit.
In der Sendung von Radio Bremen aus dem Jahre 1962 gibt es ein Interview von Gerd Lüpke mit dem Vater meiner Mitschülerin, der sich, wie er sagt "an ein etwa 10-jähriges blondes Maidli aus dem Dütschen" erinnert, das im Garten mit seiner Tochter spielte und dabei das Nordseewellen-Lied auf Plattdeutsch sang. Er habe gestutzt; auf Nachfrage habe das Mädchen erzählt, wie und warum.
Dieses kleine blonde Mädchen nun bin ich gewesen. Der Sohn von Simon Krannig hatte die Begegnung seinerzeit aus zeitlichen Gründen nicht weiter verfolgt; erst bei den Gesprächen mit den Vertretern vom Sender sei sie ihm wieder eingefallen.
absolvierte das Lehrerseminar in Franzburg; war einige Jahre Hauslehrerin, arbeitete 1898 in der Redaktion des "Deutschen Familienblattes" in Berlin; unternahm mit ihrem Mann, dem Universitätsprofessor und Pferdespezialisten Max Müller mehrere Reisen in ferne Länder; wurde 1914 in Japan vom Ausbruch des Krieges überrascht und blieb bis 1918 dort; ihre Ehe zerbrach und sie ging wieder nach Zingst zurück, wo sie in ihrem "Sünnenkringel" Haus lebte; hielt als "Mudder Möllersch" ihre Vortragsabende und schrieb Gedichte für Zeitungen, bekannt wurde sie als Dichterin des "Ostseewellenliedes"; ihr letztes Gedicht nannte sie "Fru Einsamkeit"; lebte in ihren letzten Jahren in Armut und Einsamkeit, nahe der Erblindung; wurde 1937 in das Altersheim Franzburg eingewiesen; beigesetzt ist sie auf dem Friedhof in Zingst
nach: Grete Grewolls: Wer war wer in Mecklenburg-Vorpommern?
Ein Personenlexikon.
©Edition Temmen, Bremen 1995